Menschen, die ungewöhnliche Krisen meisterten, können uns bezüglich ihres Umgangs mit schwierigen Lebenslagen als Vorbilder dienen. Man denke etwa an diejenigen, die Kriege überlebten und ihre Erfahrungen aufarbeiteten und mit anderen teilen. Die Medizinerin und Trauma-Therapeutin Dr. med. Amelie Sanktjohanser im Interview.
HOHE LUFT: Frau Dr. Sanktjohanser, Sie sind Ärztin und Trauma-und Familien-Therapeutin. Was bedeutet eine traumatische Erfahrung eigentlich für das Leben eines Menschen?
Amelie Sanktjohanser: Traumatische Erlebnisse, wie etwa Krieg, Verlust, Krankheit, emotionale oder körperliche Verletzungen oder Naturkatastrophen können das Weltbild und die Wertvorstellungen der betroffenen Person erschüttern oder gar zerbrechen. Kann der Betroffene nicht entsprechend seines individuellen Bedürfnisses reagieren und agieren, manifestiert sich der Stresslevel und wir kreieren Überzeugungen, die uns von da an entsprechend Denken, Handeln und Fühlen lassen. Der anhaltende Stress mit seinen physiologischen Komponenten kann dann über Zeit zu emotionalen und körperlichen Symptomen führen. Unsere auf dem traumatisierenden Erlebnis basierende Überzeugung beeinflusst unser privates, soziales und berufliches Leben, unsere Beziehungen und unser Erleben. Das geschieht nicht immer zum Vorteil Betroffener und ihres Umfeldes. Im besten Sinne motiviert dies zu einem „Hin-Schauen“, zur therapeutischen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen. Gelingt dann die Integration der traumatisierenden Erfahrungen, können sich die Symptome lösen und die Überzeugung sich zum Positiven hin wandeln – mit allen potentiellen Veränderungen im Leben betroffener Personen.
HOHE LUFT: Was hilft geflüchteten, kriegstraumatisierten Personen, sich (wieder) in ein ‚Wir‘ zu integrieren/ ’normal‘ in einer Gemeinschaft zu leben?
Geflüchtete und Kriegstraumatisierte haben ihre Heimat verlassen. Sie verloren ihr zu Hause, Freunde, Familie und ihr bisheriges Leben. Zu diesem Verlust kommen alle Erfahrungen hinzu, die sie eventuell auf der Flucht und an dem Ort ihres neuen Zuhauses gemacht haben, wie Gewalt, Entbehrungen, Tod und Zerstörung, Ausgrenzung und Ablehnung.
Alle brauchen ein neues Wir-Gefühl. Dies kann einerseits durch die Anbindung an Menschen aus ihrer Heimat entstehen, um die heilende Erfahrung machen zu können, an ihre Kultur und Sprache anknüpfen zu können. Zum anderen ist der Kontakt und die wohlwollende Aufnahme seitens der Menschen, die in ihrer neuen Heimat leben, essentiell. Die tägliche positive Begegnung, ob im Supermarkt oder auf der Straße, Hilfeleistungen jeder Art, eine Aufgabe im beruflichen und sozialen Bereich und ein Lächeln ihrer Mitmenschen kann ihnen helfen, Vertrauen in ihr neues Umfeld zu erlangen.
Das Geschehene lässt sich nicht rückgängig machen. Mit-Gefühl hilft. Stigmatisierungen und anhaltendes Mit-Leid können eher zur Aufrechterhaltung von Traumatisierungen beitragen. Der Respekt und die Achtsamkeit seitens des Umfeldes hilft, ein neues Leben beginnen zu können.
HOHE LUFT: Können Sie ein Beispiel geben?
Eine junge Frau wurde von ihrer Mutter während eines Bürgerkrieges – nicht ahnend wer er war- einem Schlepper zur Rettung aus dem Kriegsgebiet nach Europa mit gegeben. Sie musste nicht nur ihre Familie und Heimat zurücklassen, sondern hatte auch keine Ahnung, wohin sie kommen würde.
Am Zielort angekommen, wurde ihr für längere Zeit der Kontakt zur Außenwelt genommen. Eines Tages fasste sie Mut und entkam . Mit all ihrer Kraft fand sie den Weg zu einer Polizeistation, wo man sie anhörte, ernst nahm und ihr Schutz gewährleistete.
Während der Therapie gelang es der jungen Frau Schritt für Schritt, ihre Traumatisierungen zu integrieren und Vertrauen in dieses Land, in ihre neue Heimat und in die Menschen zu fassen. Als ich das das Gefühl hatte, sie sei so weit fragte ich sie, was sie gerne, wenn sie könnte wie sie wollte, als nächstes in ihrem Leben machen würde?
Sie lächelte und sagte: „Hier zur Schule gehen und lernen.“
Sie bestand die Aufnahmeprüfung und startete ihren neuen Lebensweg
Ich werde sie nie vergessen.
HOHE LUFT: Und was können wir uns von Menschen, die mit solchen Katastrophen umgehen müssen, abschauen?
Amelie Sanktjohanser: Positivität, Durchhaltevermögen, Willen zum Über- und Weiterleben, den Wunsch und Willen aus seinem Leben trotz allem Erlebten das Bestmögliche zu machen.
Über Erlebtes und seine Probleme zu reden, hat nicht nur für die traumatisierte Person eine heilende Wirkung. Es eröffnet auch Anderen die Augen für Realitäten und für die Möglichkeiten, bestmöglich damit umzugehen. Eigene Probleme werden vielleicht ein wenig relativiert und damit tragbarer, was wiederum für einen selbst und auch für das direkte Umfeld heilsam sein kann. Zu erleben, dass Aggressionen und Vermeidungsverhalten einer Offenheit und positivem Miteinander Platz machen können, dass die Auflösung von Hass- und Revanchegefühlen möglich ist, tragen das Potential für einen Frieden im Kleinen wie im Großen in sich. So werden Betroffene, die sich ihrem Trauma gestellt haben, auch für andere zu einem Vorbild.
Sich mit den Folgen meiner traumatisierenden, grenzüberschreitenden Erfahrungen auseinander zu setzen, erfordert sehr viel Mut. Man muss sowohl sich selbst, als auch anderen gegenüber ehrlich sein. Hinzuschauen zeugt von Stärke und der Übernahme von Verantwortung.
HOHE LUFT: Und diese Ehrlichkeit setzt wahrscheinlich auch innerhalb einer Familie vieles in Bewegung…
Amelie Sanktjohanser: Klarheit und Offenheit tragen dazu bei, dass Unausgesprochenes nicht in die nächste Generation weitergetragen und von dieser dann eventuell ausgetragen wird. Wenn beispielsweise Erfahrungen von Krieg und Flucht nicht aufgearbeitet wurden, können sie über Generationen hinweg nachwirken. Wut, Verzweiflung und Trauer, die man mit einem »darüber spricht man nicht« abtut, können manchmal noch die Kindeskinder negativ beeinflussen und beschäftigen. Selbst körperliche Symptome können von ihnen ausgetragen werden. Sich mitzuteilen und sich zu erklären, kann in jeder Beziehung zu Ent-spannung, zu Verständnis und einem freieren Miteinander beitragen.
HOHE LUFT: Und geht die Bedeutsamkeit dieser Thematisierung über Familienkreise hinaus?
Amelie Sanktjohanser: Klarheit und Offenheit können auch im interkulturellen Austausch zur Heilung und Prävention beitragen. An einem Museum in Tel Aviv finden beispielsweise regelmäßig Workshops statt, bei denen Kriegs-erfahrene Palästinenser:innen und Juden und junge Eltern beider Volksgruppen mit ihren Kindern sich zusammenfinden um sich auszutauschen, voneinander zu lernen, gemeinsam zu malen, zu töpfern….
Zum Vorbild können Kriegs-Erfahrene auch gemeinsam mit ihren Kindern werden. Ist den Eltern eine Integration und Heilung ihrer Kriegstraumata gelungen, können ihre Kinder sie als Vorbild wahrnehmen. Bei manchen führt das dazu, dass sie dann ihrerseits einen Beitrag zur Heilung und Integration leisten wollen.
Ein junger Kurde beispielsweise, aufgewachsen in Deutschland, der sich mit Anfang zwanzig entschloss, nach Mosul in das Kriegsgebiet zu fahren, um „seinen Leuten zu helfen“. Er war noch nie zuvor in der Heimat seiner Eltern gewesen!
Seine Hilfe bestand nicht im Kämpfen gegen den Feind, denn er wollte nicht Aggression und Wut unterstützen. Gemeinsam mit seinem besten Freund aus Deutschland machte er vor Ort einen Dokumentarfilm über das Kriegsgeschehen. Diesen zeigten die beiden auf unterschiedlichen Veranstaltungen, sammelten Geld und kauften dann vor Ort ein Grundstück neben einem Flüchtlingslager. Trotz Drohungen, Korruption und Gefahr ließen sie sich nicht von Ihrem Vorhaben abschrecken und bauten ein Waisenhaus auf. Es wurde zahlreichen Kindern zu ihrem neuen zu Hause und für viele Menschen ein Ort des Miteinanders.
Dr. Amelie Sanktjohanser ist selbständige Ärztin, systemischer Coach, Trauma- und Familientherapeutin mit Schwerpunkt Konfliktmanagement und Psychosomatik. In ihrer Münchner Praxis bietet sie Coaching, Beratung und Therapie für Menschen mit beruflichen oder privaten Themen sowie körperlichen Symptomen. Der eigens entwickelte Ansatz Transformation2be® bildet die Basis ihrer Arbeit. In Weiterbildungen und Vorträgen vermittelt Frau Sanktjohanser diesen Ansatz interessierten Menschen.