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Kinder brauchen Werte

Es lohnt sich sehr, die verborgenen Sehnsüchte hinter Störungen von Kindern und Jugendlichen zu entdecken – für uns alle!

Werden wir den jungen Menschen gerecht, die zur Beseitigung ihrer Probleme Hilfe suchen, wenn wir nur ihre Konflikte zu lösen versuchen oder uns ausschließlich mit ihren Symptomen beschäftigen – ohne dabei die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Betroffene etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen möchte?

Wir müssen dabei zweierlei in Betracht ziehen:

1. Das, was eigentlich zum Vorschein kommen möchte, ist dem Betroffenen zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, und die Symptome/Konflikte dienen als Vehikel.
2. Der Betroffene findet nicht den passenden Weg oder er traut sich nicht, das, worum es ihm eigentlich geht, direkt zu äußern – hier dienen die Symptome als Sprachrohr für die inneren Konflikte.

Können wir nun die Symptome richtig „übersetzen“, verstehen wir, welche Themen eigentlich zum Ausdruck gebracht werden wollen. Wir können dann individuell damit umgehen und versuchen, sie zu lösen und damit zu heilen.

WAS HINTER DEN SYMPTOMEN LIEGT

Bei Kindern und Jugendlichen verbirgt sich oftmals hinter Aggressionen, Lernverweigerung, Konzentrationsstörungen oder Antriebslosigkeit etwas ganz anderes als pubertäres Gehabe, ADHS, Depressionen oder eine andere ernsthafte Erkrankung. Sie versuchen vielmehr – bewusst oder unbewusst – hierüber auf ein persönliches und sogar übergeordnetes Thema aufmerksam zu machen, was über die reine Symptomatik hinaus geht.

Bei meiner Arbeit mit jungen Klienten konnte ich gerade in den letzten Jahren die Erfahrung machen: Erhalten sie den Respekt und den Raum, über ihre „Symptome“ zu deren eigentlichen Ursachen vorzudringen, zeigt sich, dass es ihnen oftmals um Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität, Respekt, Mitmenschlichkeit und Offenheit geht – nur dass sie bis zu diesem Zeitpunkt für sich noch keine andere Ausdrucksmöglichkeit gefunden hatten als eben über ihre Verhaltensweisen und Symptome.

JUSTINA UND DIE RÉSISTANCE

Hier einige Praxisbeispiele, welche diese erstaunliche Erfahrung widerspiegelt:

Fall 1: Eigentlich kam Justina (alle Namen sind frei erfunden) mit der Frage, welche Studienrichtung nach dem Abitur für sie passend sein könnte. Während unseres Gesprächs über ihre bisherige Lebensgeschichte traten plötzlich Armzuckungen auf, die ihr allerdings schon vertraut waren. Bisherige medizinische Untersuchungen hatten keinerlei Ergebnisse gebracht.

Ich lud sie ein, die Armzuckungen zuzulassen, um zu erforschen, was geschehen würde, wenn sie nicht unterdrückt werden. Unruhe bis hin zu Aggressionen und eine weitere Verstärkung der Armzuckungen waren die Folge. Auf meine Frage, wann sich dies ereigne, antwortete sie, diese Symptome träten immer dann auf, wenn sie irgendetwas in Verbindung mit Hakenkreuzen sehen würde. Als ich wissen wollte, was ihr dagegen helfen würde, nannte sie ein Zeichen, welches das Symbol der Untergrundkämpfer Frankreichs und Belgiens im zweiten Weltkrieg war.

Mein Erstaunen war zunächst nicht weniger groß als mein Fragezeichen, warum sie gerade dieses Zeichen als „Hilfe“ für ihre Aggression und Unruhe spontan nannte. Zuvor hatte sie mir erzählt, dass ihre Familie väterlicherseits aus Belgien stamme. Was konnte dies nun mit ihren Symptomen zu tun haben?

DIE GESCHICHTE DES GROSSVATER

Justina berichtete, dass ihr Großvater in der „Résistance“ gewesen war. Er hatte ihr, als sie noch ein Kind war, davon erzählt. Sie erinnerte sich, wie beeindruckend es für sie war zu hören, dass er sich mit seinen Kameraden trotz aller Gefahren für Recht und Freiheit eingesetzt hatte, und auch wie viel Leid und Ungerechtigkeit die Menschen damals erfuhren.

So hatte sie unbewusst nicht nur die Hilflosigkeit und die daraus resultierende Wut ihres Großvaters übernommen, die sich später bei ihr als Armzucken und Aggressionen äußerten, sondern vielmehr auch die Aufgabe, sich für Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden einzusetzen.

Ihre Aggressionen traten deshalb in Situationen auf, die mit diesen Themen zu tun hatten wie: Ungerechtigkeiten und Stress mit ihren Geschwistern und in der Schule, Mobbing oder Meinungsverschiedenheiten, wenn sie selbst missverstanden wurde und keine Chance sah, dass ihr Gegenüber ihre Haltung respektieren würde, und sie fürchtete, eventuell „niedergemacht zu werden.“

Das Ausmaß ihrer Reaktionen entsprach der realen Situation oftmals nicht, was zu entsprechenden Reaktionen ihres Umfelds führte wie Ablehnung, Ausgrenzung, Gegenwehr- alles wiederum Trigger für sie selbst und damit Verstärker ihres Verhaltens und der Symptome- ein Circulus virtuosus.

Doch was wollte sie wirklich? Bestimmt nicht dasselbe, was sie eigentlich verändern wollte, also keine Aggressivität und Destruktivität. Das durch einige Sitzungen gewonnene Verständnis über die Zusammenhänge ihrer Symptome mit der Geschichte im Allgemeinen und ihrer Familie im Besonderen sowie die Erkenntnis, dass hier die Wurzel des für sie relevanten Einsatzes für Frieden, Humanität und Gerechtigkeit lag, ermöglichten einen vollständigen Stressabbau.

Sie erkannte, dass sie für ihre Werte nicht kämpfen musste, sondern ihren eigenen Weg, sich für ihre Werte einzusetzen, finden durfte.

KAIS WUNSCH WIRKLICH ZU VERSTEHEN

Fall 2: Kai, 12 Jahre alt, enorm clever und interessiert, aber dennoch gelangweilt, lernt nicht ordentlich, kaspert herum, kann sich schlecht konzentrieren, nervt zu Hause und in der Schule. Anzeichen von Pubertät, ADHS, eine Folge von Corona oder ……?

Ja, er langweile sich, berichtete er mir, und die Lehrer seien blöd, auf Hausaufgaben habe er sowieso keine Lust, lieber wolle er an der Spielekonsole sitzen oder Filme schauen …

Was konnte hinter dieser Haltung stecken? In einer der Sitzungen kam eine klare Antwort auf meine Frage, was ihn denn motivieren würde, etwas zu ändern, wann er gerne lernen würde, und was geschähe, wenn die Lehrer nicht mehr blöd wären?
Er sagte: „Unser Schulsystem stammt aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Warum werden wir von oben herab behandelt, für blöd verkauft, bekommen die Zusammenhänge nicht erklärt, und wenn ich nachfrage, heißt es nur, ich würde nerven … Wenn sich hier etwas ändern würde, dann wäre ich dabei.“

Auf die Frage, welche Filme er gerne anschaue, antwortete er: „Solche, bei den es um einen Helden geht, der Frieden auf die ganze Welt bringen will, der aber nicht gegen die anderen kämpft wie wir hier, sondern versucht, allen zu vermitteln, wie es auch anders gehen kann.“

Ich sagte ihm, dass er sich und seiner Idee mit seinem Verhalten selbst schade, dass er das Schulsystem auf diese Weise kaum verändern könne. Doch er meinte nur: „Wenn ich mich weigere, mitzumachen, überlegen sie vielleicht irgendwann, ob es nicht doch möglich ist, mit uns Kindern anders umzugehen – und sind dann froh, weil wir alles wirklich verstehen wollen und uns eigentlich gar nicht gegen die Erwachsenen und die Lehrer stellen wollen.“

MEHR RAUM FÜR IDEEN UND WERTE

Wenn Kinder und Jugendliche so agieren, sollten wir ihnen das zollen, wofür sie sich im Grunde einsetzen möchten: Respekt. Respekt vor ihrem Mut, auf Missstände aufmerksam zu machen, Veränderungen bewirken zu wollen.

Und wir sollten uns mit ihnen solidarisieren.
Denn so vermitteln wir ihnen das Bewusstsein, sich direkt – und nicht über Symptome und ungesunde Verhaltensweisen – äußern zu können. Sie begreifen dann, dass sie gehört und nicht be- und verurteilt werden.

Und schließlich: Wir geben ihnen durch unsere Offenheit Raum für ihre Ideen und Werte.

SINNFINDUNG

Wäre eine solche Haltung nicht für uns alle von Vorteil?

Es könnte eine gesündere Gesellschaft entstehen, denn so manche Symptome würden sich zumindest reduzieren, Konflikte und tradierte Themen sich lösen; ein Mit-ein-ander beinhaltet das Potential für mehr Aktion als Reaktion, für einen Werteerhalt und einen Wertewandel.